Michael Haneke, Regiedrehbuch, 2011, zu seinem Film Amour (2012)
Das Regiedrehbuch, also jenes Exemplar, das der Filmemacher zur eigenen Verwendung während der Dreharbeit bei sich führt,
ist ein besonderes Element jeder Spielfilmproduktion. Zunächst ist es das Substrat der Vorarbeiten, eine Abfolge der Szenen,
Dialoge und Schauplätze. Die Noten dieser Partitur sind jedoch schon durch zahlreiche Annotationen ergänzt, die der
"Dirigent" während der Ausführung am Set zu beherzigen gedenkt. Schon die einleitende Szenenübersicht kann Informationen enthalten,
die kein reguläres Drehbuch berücksichtigt zum Beispiel eine exakte Datierung der fiktionalen Geschehnisse: ein internes
Gerüst für den Erzähler, das im Film selbst höchstens unterschwellig wirksam wird. Oder Angaben zur Dauer der Szenen
sie verweisen eher auf eine mentale Durchspielung vorab als auf die tatsächliche Dauer im fertigen Film.
Im Fall von Amour (und anderen Regiebüchern Michael Hanekes) enthält eine Doppelseite jeweils die französische und deutsche Textfassung einer
Szene erstere in kleinerer Schrift, um Platz für visuelle Informationen zu schaffen. Dazu zählen etwa digital vorgefertigte
Storyboards sie finden sich bei Haneke seit Die Klavierspielerin (2001), wurden aber im Lauf der Zeit technisch elaborierter und seine eigenen, schematischen Bleistiftzeichnungen,
die auch Details wie Mimik und Position erfassen. Vorgedruckte Grundrisse mit Abfolgen von Kamerapositionen, Einstellungswinkeln
und Ortswechseln der Schauspieler ergänzen die raum-zeitliche Gesamtkonzeption. Weitere "visuelle Notizen" entstehen aller
Wahrscheinlichkeit nach während der Dreharbeiten selbst.
Besonders einleuchtend ist das Farbleitsystem: nummerierte Reiter in Gelb (für eine Szene bei Tag), Grün (Nacht) und Gelb-Grün
(Dämmerung). Zumeist unterstreicht Haneke in Gelb und Neonblau die Licht- bzw. Ton-relevanten Aspekte des Scripts. Auffällig
sind auch die abgerissenen unteren Ecken: Wie in einem Logbuch erhält jede Buchseite nach dem Dreh der betreffenden Szene
eine winzige Leerstelle. So wird täglich an die Vergangenheit verwiesen, was schon eine Zukunft gewonnen hat: aus dem Konzeptpapier
ist belichteter Film geworden.
Der obige Titel ist Michael Hanekes Eintrag ins Gästebuch des Filmmuseums entlehnt. Im buchstäblichen Sinn ist die Aussage
unkorrekt, denn der Regisseur wohnt anderswo. Sie lässt sich aber auf den Umstand beziehen, dass in diesem Museum seit 2003
sein Vorlass zu Lebzeiten bewahrt und für die Forschung zugänglich gemacht wird.
Quelle:
Quelle:
Roland Fischer-Briand, In: Kollektion. Fünfzig Objekte: Filmgeschichten aus der Sammlung des Österreichischen Filmmuseums, Hg. Paolo Caneppele und Alexander Horwath, Wien 2017, FilmmuseumSynemaPublikationen 22 [Fünfzig Jahre Österreichisches Filmmuseum, Band 3], S. 172-177.